Wolfgang Klitzsch/Wilhelm Pfaffenhausen: Warum sind wir nicht schon längst wahnsinnig? Europa Buch (Berlin) 2022.149 Seiten. ISBN 9791220132145
Thema
Im Mittelpunkt dieses handlichen Buches steht die Frage der Politik, genauer: die Frage nach unserer Demokratie. Was ist problematisch? Was sollte geändert werden? Es liegt nahe zu vermuten, dass die Corona-Zeit mit allen ihren Verwerfungen für die Autoren der Ausgangspunkt für ihre hier vorgestellten politischen Überlegungen gewesen ist. Darauf mögen der Titel und der Zeitpunkt des Erscheinens hinweisen. Doch würde diese Annahme zu kurz greifen. Den Autoren geht es weit über Corona hinaus um die Frage, was an unserer Demokratie seit längerem nicht mehr funktioniert und wie unsere Demokratie vor allen Dingen besser gemacht werden kann. Dabei sticht ihr Ansatz besonders heraus: Sie führen einen Dialog und lassen den Leser daran teilnehmen. Überlegungen, wie wir sie selbst oft anstellen, Sätze, wie wir sie auch in einer Auseinandersetzung über ein kontroverses Thema mit Freunden gebrauchen würden, bestimmen den Text. Dabei bleiben wissenschaftliches Gehabe und jede Besserwisserei außen vor. Der Leser wird respektiert und in die Lage versetzt, der Argumentation der Autoren zu folgen und einen eigenen Standpunkt entwickeln zu können.
Autoren
Dr. Wolfgang Klitzsch,1950 in Bielefeld geboren, lebt in Düsseldorf, hat seine akademische Bildung an der Universität Bielefeld und an der Universität Köln erhalten und war 35 Jahre in der Gesundheitspolitik tätig.
Dr. Wilhelm Pfaffenhausen, 1954 in Koblenz geboren, lebt in Düsseldorf, ist Wirtschaftswissenschaftler, selbständiger Unternehmensberater und Publizist.
Aufbau und Inhalt
Erste Einführung (Wolfgang Klitzsch)
Die Pandemie-Politik hat u. a. den Effekt gehabt, viele Bürger in eine Situation der Ohnmacht zu versetzen. Das Gefühl der Ausweglosigkeit, die innere Handlungsstarre und das Empfinden des Ausgeliefertseins blockierten die eigene Suche nach Auswegen. Die Situation der Ohnmacht wurde von der politischen Exekutive auf Dauer gestellt.
In gesellschaftlich relevanten Bereichen war jedes individuelle Handeln blockiert: keine Meinungsabweichungen, Schutzfunktion des Grundgesetzes außer Kraft, keine Kontrolle der politischen Eliten, Diskreditierung alternativer Lösungen etc.
Zweite Einführung (Wilhelm Pfaffenhausen)
Die Politiker und Meinungs- und Mandatsträger erreichen nicht mehr die Bürger. Es fehlt ihnen die für eine Ansprache der Bürger notwendige klare Positionierung. Plattitüden und Floskeln sowie eine Plastiksprache bestimmen die Kommunikation. Ein führender Einfluss ist aber nur mit klarer Sprache und einem klaren Handeln möglich. Machterhalt und Ausschaltung Andersdenkender sind das Ziel dieser technokratischen Elite.
Die Politische Deutungshoheit und die Engführung des Denkens haben den Weg zum offenen Dialog und zu vernünftigen Lösungen verbaut.
Menschen von der Moderne
Es sind vor allem die Institutionen, die uns haltgeben. Es ist vor allem die Orientierungs -und haltgebende Funktion des Rechtes, die uns heute fehlt und die zerstört ist. Was kann uns heute den Halt geben, den wir für die Bewältigung unseres Lebens gebrauchen? Je mehr die Unsicherheiten zunehmen, desto notwendiger sind kluge und offene Gespräche, die eine verfahrene Situation händelbarer machen können. Dabei darf es keine Vereinfachung, keine Polarisierung und keine Verteufelung anderer Meinungen geben.
Die Frage nach der Bedeutung, Funktion und Reichweite der Wissenschaft in unserer Gesellschaft erhält eine immer größere Bedeutung. Wichtiger noch wird die Überlegung, ob die Politiker überhaupt in der Lage sind, eigene Positionen gegenüber der Wissenschaft zu entwickeln oder ob sie nur noch als deren Legitimatoren auftreten. Oft sind es die Politiker, die der monoperspektiven Sicht einer Wissenschaft nachlaufen, ohne dabei das Prinzip des klugen Menschenverstandes zu berücksichtigen. “Bitte Politiker folgt mir nicht. Ich gebe die eine Perspektive, aber es gibt auch 20 andere, aber tu mir den Gefallen und setzte es nicht 1:1 um”, so könnte Politikberatung aussehen, die auf sich hält.
Neue Diskussionsrunde
Die Demokratie als Staatsform und die Politiker stehen im Mittelpunkt dieser Diskussionsrunde: Demokratie ist eine Staatsform mit der historischen Tendenz zu Monsterstaaten. Auch ist sie eine Staatsform, die am intensivsten in das Privatleben eingreift, wie Egon Friedell warnend festhält. 16 Bundesländer tragen überdies zur Ineffizienz des politischen Systems durch Aufblähung bei. Hinzu kommen die von der Demokratie gezeugten Berufspolitiker, deren Zeit sich nun dem Ende zuneigt. Außerdem hat die Demokratie die Tendenz, sich selbst aufzufressen, indem sie ihren Machtapparat immer mehr vergrößert und letztendlich nicht mehr steuerbar macht. Ein besonderes Problem unserer Demokratie ist die Entpolitisierung ihrer Bürger. Zum Schluss heißt es dennoch: Die Demokratie ist durch eine Krise zum Widerstand zu verändern!
Nächste Diskussionsrunde
Zu den positiven Eigenschaften der Demokratie zählen: Gewährleistung einer Stabilität des Gemeinwesens, Chancengleichheit und Sicherung einer individuellen Entfaltung sowie Schutz vor staatlichen Übergriffen etc. Auf der Minus-Liste: Versprechungen, die nicht eingehalten werden, Kurzfristigkeit der Entscheidungen, Übertragung der Kosten auf kommende Generationen, Allzuständigkeit des Staates, Machtressourcen, Erzeugung von Ängsten, Allianz mit Medien, Steuerfinanzierung, subventionierter Kulturbetrieb. Die Re-Politisierung der Bürger ist für die Belebung der Demokratie notwendig. Der betreute Bürger ist jedenfalls kein demokratisches Ideal.
Nächste Diskussionsrunde
Nicht die gründlichen Argumentationen dieser letzten Diskussionsrunde, sondern deren Resultat möchte ich abschließend vorstellen:
Die Demokratie mit ihren Machtmechanismen ist etwas sehr Subtiles und gleichzeitig sehr Brachiales. Die aber im Endeffekt aber auch faktisch einer Autokratie zunehmend ähnlich wird.
Es dürfte notwendig sein, eine Kommission zu bilden, die einen Neuanfang wagt mit dem Ziel, Politik effektiver zu machen, mit weniger Apparat, weniger Gremien, weniger Apparatschicks, ohne Berufspolitiker etc. Eine Abstimmung des Volkes entscheidet.
Der Homo Politikus ist kein Berufspolitiker, hat eine Mandatsbegrenzung von zwei Wahlperioden, Berufserfahrung von 10 Jahren und die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu analysieren, Mehrheiten zu gewinnen und Entscheidungen zum Wohle des Volkes zu treffen.
Nachwort
Hier erfahren wir, dass ein Satz von Peter Sloterdijk die beiden Diskutanten zur Formulierung ihres Buchtitels bewegt hat: “Die größte Leistung des modernen Menschen besteht darin, nicht verrückt zu werden.”
Angesichts von Cancel-Culture, Identitätspolitik und Sprachenhysterie, die den politischen Verwerfungen vergangener Jahre weitere Verwerfungen beifügen, dürfte die Immunisierung und Resistenz mit dem Ziel, nicht wahnsinnig zu werden, immer schwieriger zu erreichen sein.
Diskussion
Die Corona-Zeit und die dazugehörige Corona-Politik sind nicht vom Himmel auf die Erde gefallen. Sie haben eine Geschichte des Vorlaufes, in der die Pfeiler unserer Demokratie schon sehr in Mitleidenschaft gezogen wurden und das Grundgesetz in vielen Fällen eher entkernt als angewandt wurde. Man konnte also jetzt schon wahnsinnig werden, wenn kein Instrumentarium für das Verstehen der Vorgänge gegeben war. Nach der Corona-Zeit, die weitere Verwerfungen der schon mageren Demokratie hervorgebracht hat, helfen nur noch gute Lektüre wie die vorliegende und vom Arzt verschriebene Pillen.
Fazit
Jeder, der seine eigene Vernunft ohne Fremdbestimmung gebrauchen und der Demokratie mit ihren Facetten bis hin zu ihrer Selbstzerstörung auf die Spuren kommen will, wird in diesem Buch fündig. Auch gibt es Kurz-Hinweise auf weitere Lektüre: Niklas Luhmann, Arnold Gehlen, Baltharsar Gracian, Oskar Wilde, Egon Friedell, Robert de Niro, Winston Churchill, Frédérik Bastiat tauchen unvermutet auf, ohne uns zu stören bzw. aufdringlich zu sein. Ich empfehle das Buch als Aufklärungsliteratur.
Alexander Brandenburg